Der Radiozeichner. Während meines Studiums ließ einer meiner Profs einen Satz fallen, den er inzwischen vielleicht schon längst vergessen hat: „Machen Sie eine Ausstellung, laden Sie die Menschen zur Eröffnung ein, und wenn sie dann da sind, verschließen Sie die Tür, lassen niemanden rein, sondern erzählen, was darin zu sehen sein könnte.“
Mich hat diese Idee nicht mehr losgelassen.
Ein zweiter Vorläufer war Liquid Penguins DER FALL SOLA. Ein Stück, bei dem es auch ums Übersetzen ging. Übersetzen von Sprache in Zeichnung und Zeichnung in Musik und Musik in Text usf. usw. Während einer Aufführung durfte ich dann sogar life im Radio zeichnen. Wer hat das schon? Seitdem kann mir nichts mehr passieren.
Und dann kam die Idee, das etwas konzentrierter für mich selbst zu nutzen. Zeichnungen anderer zu beschreiben, Zeichnungen, die ich gut finde, die mich beeindruckt und begleitet haben. In Sprache zu übersetzen. Sie aber auch in Musik/Geräusch zu übersetzen, um das ein wenig zu komplettieren. Da ich ja auch Geräusch und Musik als zeichnerische Ausdrucksformen schätze und benutze.
So um die 40 Texte und Geräusch hatte ich bereits fertig. Und die waren auch hier alle schon einmal zu lesen und zu hören.
Am vergangenen Wochenende ergab sich dann die Gelegenheit, einen dieser Texte life vorzutragen. Und ich hab ihn dann vorher nochmal überarbeitet. Und bemerkt: Zeit ist ein gutes Ding. Und der Abstand und die Überarbeitung haben den Text flotter und besser gemacht. Und so soll es sein.
Ich habe große Lust, diese ganze Arbeit nochmal anzugehen. Die Texte umzuschreiben, sie und die Geräusche präziser zu machen.
Vielleicht findet sich dann ja auch ein Sender, der das senden mag.Zeichnung Nr. 3: Klaus Harth, aus: „DER FALL SOLA, abandonné, verlassen, einsam, öd“
Ausnahmsweise wird hier an dieser Stelle auch eine einzige Zeichnung aus eigener Produktion vorgestellt. Wenn man die eigene Arbeit als ein diskontinuierliches Kontinuum versteht, als ein meist tägliches Zeichnen, Aufnehmen, Uminterpretieren und Neuordnen von Welt, dann stellt sich vielleicht die Frage: wo kommt die Sache auf den Punkt? Kommt sie überhaupt irgendwo auf den Punkt? Und: ist ein Punkt denn schon eine Zeichnung, wo er doch per Definition gerade eben noch keine Linie ist? Also etwas, das sich noch nicht bewegt hat? In der Aufführung DER FALL SOLA des Liquid Penguin Ensembles (u.a. am 9.11.2017 während der ARD Hörspieltage), bei der ich als Life-Zeichner mitwirken durfte, und bei der man, grob gesagt, die Entwicklung von Sprachen, deren multimediale Verquickungen und Übersetzungen von verbalen in musikalische und in bildnerische und von bildnerischen in verbale und musikalische undsoweiter und nochmal anders mitverfolgen konnte, gibt es eine Szene, die ich dann doch herausgreifen möchte. Es kommt, relativ zu Anfang, zu einer kleinen Meditation über das Wort „allein“. In mehreren Sprachen wird das durchgespielt, französisch, englisch, italienisch, japanisch, finnisch, deutsch und die Bedeutungen werden immer dramatischer. Von einem relativ neutralen „allein“ steigert sich das bis zu „wüst“ und „leer“ und „abandonné“, „verlassen“,“einsam“,“öd“. Währenddessen entsteht auf dem Overhead-Projektor, so langsam es geht, eine einfache Linie. Sehr sehr langsam. Extrem langsam. Eine einfache, einzige, einsame schwarze Linie auf hellem Grund, die auf der Bühne an die Rückwand projeziert wird. Von links nach rechts waagerecht gezogen. Die Musiker, eine Pianistin, ein Cellist, eine Bratschistin und ein Bassist, finden sich im Verlauf der Linie allmählich auf einem hohen vibrierenden Ton ein. Und in diesem Moment kann man die Linie hören und den Ton sehen. Da gibt es keinen Unterschied mehr. Diese Linie ist ein bewegter Punkt ist eine Linie und keine Linie. Sie kann allein und alles sein. Öd und bewegt, ein Horizont, auf oder vor dem etwas passieren könnte. Eines der einfachsten Dinge, die man tun kann. Zeichnen ist einfach. (Und man sollte hier auch erwähnen, dass man natürlich auch das Entstehen der Linie beobachten kann; sie entsteht nicht aus dem Nichts, man sieht den Zeichner über den Overhead-Projektor gebeugt stehen und man sieht natürlich auch den Schatten von Hand und Stift auf der Projektion, so wie man ja auch den Musikern beim Bedienen ihrer Instrumente zuschauen kann). Im weiteren Verlauf des Stückes wird diese Linie dann auch wieder zu etwas anderem, um dann schließlich zu verschwinden und durch andere Linien ersetzt zu werden. Und das war aus zeichnerischer Sicht das Wunderbare an diesem Projekt: Von einem einfachen Punkt (den gab es tatsächlich auch an einer Stelle) über eine einfache Linie bis zu Portraitzeichnungen von zu Stimmen gehörenden Köpfen, die man sonst nur als Einspieler hören konnte und die Teil des Bühnenbildes waren, bis zu einem stilisierten Radio, das immer wieder auftaucht und das man als „Radio“ akzeptiert, nicht nur, weil man es dann tatsächlich auch hören kann, konnte sich das, was Zeichnung ausmachen kann, in einer recht anschaulichen Bandbreite entfalten. Eine Linie ist eine Linie ist keine Linie.
Und aunahmsweise gibt es keinen Ton als Interpretation, da es ja bereits einen Ton im Original gab, den man sich nun aber einfach mal selbst vorstellen muss. 🙂
Zeichnung Nr. 7: Richard Tuttle, 40 Days, 39. Blatt, Kugelschreiber (?) und Aquarell auf Papier. Abreißblock-Perfo sichtbar. 1989
Richard Tuttle. Wann ist etwas etwas und wann ist es noch nichts? 1941 geboren. Wir haben vor uns aus dem vielfältigen Werk ein Blatt aus einer Serie von 1989. Titel auf Englisch: 40 days. Wenn man alle Blätter vor sich hat, dann handelt es sich um Blatt 39. Thirtynine. Also vorletztes. Ein Blatt, aus einem Spiralblock gerissen. Am unteren Rand ist die Lochperforation nicht entfernt. Blaue unregelmäßige Lineatur, das Blatt nervös, zum größten Teil netzartig, überziehend, aber nicht zu gleichmäßig. Wie so aus dem Handgelenk gekritzelt. Möglicherweise Kugelschreiber. Und natürlich mischt sich diese Lochperoration auch mit ins Gespräch, ist sichtbar, Teil des Geschehens. Man kann sich vorstellen, dass er hier tatsächlich vierzig Tage lang. Ein Blatt nach dem anderen: Wie leicht das geht. Wie leicht Du bist. Dazu gesellen sich fast willkürlich gesetzt erscheinende. Gezeichnet hat. Was jetzt?: Farbflecke. Und entwickelt hat. Vierzig Tage lang in einem ähnlichen Duktus Blätter gefertigt hat, die dann als Serie. Willkürlich erscheinend gesetzte Farbflecke, Aquarell, davon könnte man ausgehen. Also durchaus eine malerisch wirkende Zeichnung. Klares Gelb, klares Grün, klares Blau. Eine sehr rote Form fast mittig, die so eine Art Rechteck beschreibt. Hochzartes Violett. Und Grau. Die Flecke haben unterschiedliche, was bei Tuttle immer interessant ist: Größen. Wann ist etwas etwas und wann ist es noch nichts? Ein gelbes Zickzack am oberen Blattrand. Er war also 47/48 Jahre alt. Sieht aus wie. Wie lange haben Sie für diese Zeichnung gebraucht? : 47/48 Jahre? Eben mal so hingekritzelt. Flecke, die aber doch keine Flecke sind. Grün auch. Ein Fleck, der von einem intensiven Orange ausgehend in einem Gelb ausläuft. Auch. Fast wie so beiläufig. Ist es beiläufig? Flecke als Form. Formen wie Flecke. Dabei das blaue unregelmäßige Liniengewirre nicht aus den Augen verlieren! Ein zusammenhängendes Stück, auf alle Fälle akzeptieren wir hier das Beiläufige als 1 Stück. Darf das schon etwas sein? Hier ist doch kein bisschen an der Form gearbeitet? Er wirft uns etwas hin und das ist es dann! Oder ist es noch nichts? Wo ist der Unterschied zwischen Zufall und Absicht? Ist es ein Stück? 1 Stück? Ein Stück? Ein Stück vom Glück vielleicht? So unglaublich leicht. So leicht, dass viele denken (und sagen) mögen, das kann ich auch – könnten sie auch. Vielleicht. Wenn sie nur selbst etwas leichter wären. Alles zusammen dann schön und klar gerahmt. Und davon 40 so oder so ähnliche Blätter für so oder so ähnliche Tage. Auf meiner Gitarre klingt das (stark verkürzt) in etwa wie folgt:
Zeichnung Nr.23: Saul Steinberg, aus der Reihe Spiegelungen, 2. Spiegelungen-Blatt aus „Die Entdeckung Amerikas“, Diogenes, 1992
Unser Blatt ist sehr puristisch gehalten. Keine Farbstifte, kein Aquarell, all das, was dieser Zeichner sonst immer wieder gerne benutzt hat: genau das fehlt hier. Ein roher, etwas krakeliger Strich, der teilweise an Kinderzeichnungen erinnert. Eine Zeichnung, die uns ästhetisch nix dahermacht. Eher was zu Denken als zum Genießen.
Wir sehen ein Querformat. Seitenverhältnis grob etwa 2:3. Waagerecht findet sich etwas oberhalb der Mitte: ein Horizont. Eine schnurgerade Linie, nicht krakelig, mit dem Lineal gezogen: Die Spiegelachse, die Leitlinie, an der sich, oberhalb und unterhalb, alles orientiert, ordnet und abspielt. Beziehungsweise abspiegelt.
Das Blatt gehört sinnigerweise zu einer Reihe mit dem Titel „Spiegelungen“.
Am unteren Blattrand, etwas rechts, steht an einem angedeuteten Ufer ein kleiner Mann mit Hut, der das ganze Szenario betrachtet. So wie wir auch.
Was spiegelt sich nun? Wir lesen das am besten von links nach rechts:
Ganz links am Blattrand: der Rest einer Insel, die gerade noch ins Blatt ragt. Ein stilisiertes Bäumchen darauf.
Danach, im Himmel: das Wort OHIO. Vier Buchstaben mit etwas Abstand, die sich exakt genau so unten in der Wasserfläche wiederfinden. O gespiegelt mit O ergibt O. H gespiegelt mit H ergibt H. Und so weiter und so fort eine glasklare geometrische Spiegelsache.
Danach sehen wir im Himmel einen Schwan, Kopf nach links. Aber ach: Er schwimmt und bespiegelt sich an einer kleinen eigenen Spiegelachse entlangschwimmend bereits an sich selbst, und zwar oben im Himmel, als sei hier bereits auch schon See. Doppelschwan im Himmel, der sich als eben diese Doppelfigur, wen wird das wundern, natürlich auch als Doppelschwanselbstbespiegler-Spiegelbild unten im Wasser wiedererkennbar wiederfindet.
Man könnte so drüberweggucken. Wie über so vieles im Leben.
Dann, weiter in Leserichtung nach rechts, wieder eine Sprachspiegelung. Im Himmel das Wort STAR. Stern. So etwas erwartet man da oben. Yesjawoll. Gespiegelt wird aber nicht S als S, T als T usw., sondern von hinten nach vorne: aus dem Stern werden die Ratten, aus dem STAR werden die RATS. Das gehört in die Schublade der Ideen, die ich selbst gerne gehabt hätte. Semantische Fallhöhe hoch 3. Mindestens. Einfach mal so eben weggespiegelt.
Um das verdauen zu können, macht es uns Saul Steinberg am rechten Blattrand etwas einfacher. Da finden wir dann wieder den Anfang (oder das Ende) einer Insel, vielleicht einfach auch nur einen Kai mit einer kleinen Fabrik mit rauchendem Schlot. Der Rauch stiehlt sich sowohl in Himmel und Wasser über den rechten Bildrand aus dem Geschehen heraus.
Unten rechts steht am Ufer der Mann mit Hut. Er allein bleibt ungespiegelt. Guckt aber in dieselbe Richtung wie wir. What you see ist what you get.
Zeichnen sei Denken auf dem Papier hat Saul Steinberg einmal gesagt.
Ja!
Ein ausgeprägter Spieltrieb kann beim Denken aber sehr gut helfen.
Zeichnung Nr. 24: Rikuo Ueda, Letter, Kunststation St. Peter, Köln, 2018
Wir sind draußen im Hof der Kunststation St. Peter in Köln. Einer Kirche, katholisch, die immer noch als Kirche benutzt wird, wo aber regelmäßig avancierte Ausstellungen stattfinden. Und auch regelmäßig Orgelmusik zu hören ist, die man normalerweise auch nicht oft zu hören bekommt.
Was stellen wir uns vor?
Einen aus Holz zusammengezimmerten Kasten, der etwas erhöht auf Pfosten steht. Es sind Fenster darin, diese sind aufgeklappt und aus der Rückseite ragt weit ausladend ein Ast. Dieser Ast ist auf eine gleichermaßen einfache wie kunstvolle Art beweglich innerhalb dieses Kastens aufgehängt, so dass er durch den mehr oder weniger starken Wind leicht hin und her bewegt werden kann. An seiner Spitze, innerhalb des Hauses (wir nennen den Kasten ab jetzt der Einfachheit halber Haus), also: an der Spitze dieses Astes innerhalb des Hauses befindet sich ein Zeichenstift. Wahlweise lassen sich sogar unterschiedliche Zeichenutensilien anbringen, alle sind an einem Gestell zur freien Auswahl zur Verfügung gestellt. Ein fernöstlicher Tuschepinsel findet sich dort, Kugelschreiber, Bleistifte usw. Ich glaube, mich sogar an einen Filzstift zu erinnern. Die Gewichtungen zwischen Ast und Aufhängung und den Stiften sind derart fein austariert, so dass der jeweilige Stift über ein Papierblatt gleiten, es zeitweise nur zart berühren oder es verfehlen kann, je nachdem wie der Wind Ast und Zeichengerät bewegt. Im Falle unseres „Hauses“ ist an der Stirnseite ein Blatt montiert, ebenso an einem der beiden offenstehenden Fenster seitlich.
Betritt man dann die Kunststation St. Peter selbst, findet sich dort eine weitere, vergleichbare Installationen: Zentral im Raum eine Konstruktion mit einer Wasserschale, auf der eine weitere Konstruktion schwimmt, die in diesem Fall das zu bezeichnende Papier trägt. Quasi ein Boot mit einem kleinen Zeichenpapier. Von ganz weit oben von der Empore schwingt sich dann ein gebogener Stab, an dessen Ende sich ein Zeichenstift befindet. Dieser Stab mit seinem Zeichenstift ist also fix montiert und unbeweglich und das zu bezeichnende Papier wird durch Schall oder sonstige Bewegungen im Raum vermittels des Wassers in der Schale bewegt. Naja, nicht ganz: natürlich wird auch der von der Empore herabreichende Stab nicht ganz ohne eigene Schwingungen bleiben, aber minimal. Steht man davor, ist erst einmal gar keine Bewegung zu erkennen; die entstandenen Linien auf dem Blatt aber zeigen, dass es durchaus Bewegungen geben muss. Es sieht aus, als passiere nichts, man sieht aber an den Spuren auf dem Blatt, dass tatsächlich – sehr sehr langsam – etwas passiert.
Man kann sich nun leicht vorstellen, dass hier eine andere Lineatur entsteht, vor allem auch eine andere Dichte an Linien, als in der windgetriebenen Konstruktion draußen. Betrachtet man die Konstruktion von der Empore aus, dann wirkt das alles noch beeindruckender: Der Blick führt einen beachtlich hinab in die Tiefe und endet unten auf einem winzigen Papier in einer winzigsten Zeichenspitze.
Was entsteht nun auf diesen Papieren? Feinstes und winzigstes Gekräusel. Nein, man möchte nicht Gekritzel sagen. Gekritzel wäre falsch. Gekritzel enthält eine Prise zuviel an menschlicher Willkür, an menschlichem Wollen. Gekräusel trifft es am ehesten. Manchmal schert auch eine einzelne Linie aus. Oder mehrere parallele Linien. Kleine Punkte entstehen auch. Am berührendsten ein Blättchen von ein paar wenigen Quadratzentimetern mit einer unglaublichen Verdichtung an blauem Gekräusel. Blätter von großer Konzentration.
Alles das, was wir sehen, erscheint in keinster Weise zufällig. Und das ist das Interessante.
Zufällig entstandene Spuren, die wir nicht als zufällig empfinden, sondern als konzentrierte Formen und Äußerungen. Manche sagen ja, es gäbe keine Zufälle, andere meinen, es gäbe nichts anderes als den Zufall. Rikuo Ueda nennt diese Zeichnungen letters, Briefe. In einem ausliegenden Flyer lesen wir, Ueda habe im südthailändischen Krabi eine ähnliche Windarbeit entstehen lassen, mit deren Hilfe er Briefe an seine kurz zuvor verstorbene Frau „geschickt“ habe. Seither warte er auf eine „Antwort“, die er sich nun in Köln erhoffe. Wie auch immer: Zufall kann auch heißen, dass es bestimmte Dinge gibt, die einem zu-fallen können. Und hier nun werden Gerätschaften gebaut und austariert, die diesem Zufall auf die Sprünge helfen.